Wie der Wald uns dabei hilft, uns selbst zu erkennen.

Der Wald war für uns Menschen schon immer ein Kraft- und Sehnsuchtsort. Der Mensch kommt aus der Natur. Wir sind Teil eines Jahrmillionen langen Evolutionsprozesses. In unserem hektischen Alltag, in unseren Büroräumen, vor unseren Computern vergessen wir das oft. Wer aber zur Ruhe kommt und tief in sich hineinspürt, wird einen natürlichen inneren Drang nach der Nähe zur Natur verspüren und sich durch die Verbindung mit ihr immer wieder selbst erkennen.

Erich Fromm, Psychotherapeut und Philosoph, nannte die Sehnsucht des Menschen nach der Natur „Biophilia“. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und setzt sich zusammen aus den beiden Wortteilen „bios“ (übersetzt: Leben) und „philia“ (übersetzt: Liebe). Biophilia bedeutet also nicht weniger als „Liebe zum Leben“. Gemeint ist die Liebe zur und die Sehnsucht nach der Natur und der Verbundenheit mit allem. Wie alle Lebewesen sind auch wir Menschen Teil des großen Netzwerks der Natur.

Dass uns der Wald guttut wissen wir intuitiv. Der Aufenthalt im Wald, die Verbindung mit der Natur wirkt sich positiv auf unser körperliches, emotionales und geistiges Befinden aus. Seit einiger Zeit wird diese intuitive Annahme auch wissenschaftlich beleuchtet. Vor allem in Japan und den USA gibt es heute ganze Wissenschaftszweige, die sich mit den gesundheitlichen und emotionalen Effekten der Natur auf uns Menschen beschäftigen.

Im Wald zur Ruhe kommen: Being-away

Wer sich länger, alleine oder in Gruppen, bewusst im Wald aufhält, kommt bei sich an, wird sich seiner selbst und des großen Ganzen bewusst und gelangt oft zu Erkenntnissen über sich selbst und zu einem neuem Bewusstsein. Wie kommt es dazu?

Der Wald ist für uns Menschen ein Zufluchtsort. Er gibt uns die Möglichkeit aus unseren alltäglichen Strukturen, Aufgaben und Verpflichtungen auszubrechen, Abstand zu unseren Problemen zu gewinnen und schafft so einen Seelenraum, in dem wir ganz bei uns ankommen können. Im Wald müssen wir nichts tun, wir müssen niemand sein, wir brauchen nichts, wir werden nicht beurteilt. Wir können einfach sein wie wir sind. Diese Freiheit in der Natur nicht beurteilt zu werden, niemandem gerecht werden zu müssen, wird auch „Being-away-Effekt“ bezeichnet (übersetzt: Weg-sein, Woanders-sein). Die US-amerikanischen Umweltpsychologen Rachel und Stephen Kaplan bewerteten diesen Effekt als einen der wichtigsten Mechanismen, die ein Aufenthalt im Wald in uns auslösen kann. In der Natur fühlen wir uns ganz, wir fühlen uns verbunden und angenommen. Wir erkennen, dass wir Glück in uns finden und nichts im Außen brauchen, um glücklich zu sein. Das gibt uns die Freiheit so zu sein wie wir wirklich sind und ermöglicht uns einen ganz neuen gedanklichen Spielraum für die großen Fragen des Lebens: 

  • Wer bin ich wirklich?
  • Warum bin ich hier?
  • Was ist meine Aufgabe?
  • Welchen Beitrag möchte ich leisten?
  • Wie möchte ich leben?
  • Ist das, was ich jeden Tag tue, die Art und Weise wie ich mein Leben verbringen möchte?
  • Bin ich glücklich?

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Sinnliche Erfahrungen und Selbsterkenntnis

Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass wir nicht nur bewusst Abstand zum Alltag gewinnen, sondern auch unser Unterbewusstes permanent mit der Natur kommuniziert. Unser Gehirn reagiert unglaublich schnell auf äußere Reize und löst so Emotionen aus. In der Natur sind wir in unserem natürlichen Lebensraum. In der Evolutionsgeschichte hat der Mensch hier weit mehr Zeit verbracht als in unseren modernen Städten. Wir fühlen uns in der Natur im Wald zuhause, angekommen, behütet. Wir kommen in einen Entspannungsmodus, das Stresshormon Cortisol wird zurückgefahren, unsere Herzfrequenz reguliert sich und das Stressniveau insgesamt sinkt. Das schafft Raum und Zeit, um uns für uns selbst zu öffnen und die Welt um uns herum neu zu interpretieren.

Hinzu kommt, dass wir Menschen sinnliche Wesen sind. Wir nehmen die Welt mit unseren Sinnen wahr und leiten aus diesen Sinneseindrücken Informationen ab. Wir analysieren kontinuierlich unser Umfeld und versuchen aus dem, was wir wahrnehmen, einen Sinn abzuleiten – und zwar nicht nur im Alltag, im Kontakt mit anderen Menschen, sondern auch in der Natur. Die Natur bietet uns verschiedene Eindrücke, denen wir eine Bedeutung zusprechen – das kann zum Beispiel ein kleiner Pflänzling als Zeichen für neues Leben oder ein robuster alter Baum als Zeichen für Widerstandskraft sein. Wir interpretieren was wir sehen und leiten daraus Lösungen für unsere Probleme ab – ganz individuell, je nachdem welche Themen uns aktuell beschäftigen. Gleichzeitig bietet die Natur einen Ort der Ruhe, des Rückzugs und der Selbstreflexion. Dadurch kann es uns gelingen, eine ganz neue Bewusstseinserfahrung zu machen, neue Denk- und Sichtweisen zu entwickeln und Lösungen für unsere Ängste und Probleme zu finden.

Diese neuen Erkenntnisse lassen wir nicht im Wald, sondern nehmen sie mit in den Alltag, wo wir auch unserem Umfeld auf Basis unserer Erfahrungen und Erkenntnisse im Wald eine neue Bedeutung zuweisen. So kann es vorkommen, dass wir unsere Wünsche, Träume und Ziele auf einmal neu bewerten, uns neu ausrichten und Dingen, über die wir uns zuvor definiert haben, eine neue Bedeutung zuweisen. Das kann befreien, aber auch aufrütteln. In jedem Fall gibt es uns die Möglichkeit, die Welt, in der wir leben, und unsere Rolle in ihr neu zu interpretieren und bietet so ein unfassbares Potenzial für Veränderung und Wachstum.

Literaturempfehlungen

Arvay, Clemens G.: Der Biophilia Effekt. Heilung aus dem Wald. Ullstein Verlag, 2018 (5. Auflage).

Fromm, Erich: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und Bösen. Dtv Verlag, 2016 (Neuausgabe).

Kaplan, Tachel & Stephen: The Experience of Nature. A Psychological Perspective. Cambridge University Press, 1989.